Die abgründige ARD-Serie „Warum ich?“: Wenn der Entführer zum einzigen Freund wird

Solch seltsame Familien sind selten im deutschen Fernsehen! Ein Paar lebt mit dem halbwüchsigen Sohn in einer einsamen Waldhütte und hat ihn im Glauben erzogen, die Mächtigen der Erde würden die Erdanziehung schrittweise abschalten – nur sie drei könnten sich gemeinsam vor dem drohenden Sturz ins Weltall retten. In einem Nobelrestaurant erklärt ein Vater seiner Familie, er habe erfahren, dass eine der drei Töchter nicht von ihm stamme – deshalb schalte er seine väterlichen Gefühle für sie ab sofort komplett ab. Und ein weiterer Vater hat seine Kinder zum 60. Geburtstag geladen und gesteht ihnen, er sei todsterbenskrank und wolle sich in wenigen Wochen mittels Sterbehilfe umbringen. Seine entgeisterten Kinder zeigen nicht etwa Mitgefühl, sondern jammern: Warum geschieht das gerade mir!
Wer auf den Namen des Autors und Regisseurs schaut, wird etwas weniger überrascht sein von der boshaften Schärfe: Denn der Wiener David Schalko ist für seine schwarzen, abgründigen Serien bekannt. Die Serien „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, ein Remake des Fritz-Lang-Klassikers, und „Kafka“, nach Drehbüchern von Daniel Kehlmann, wurden von der Kritik gefeiert, hatten es aber schwer beim TV-Publikum. Das Multitalent ist nicht auf ein Fach beschränkt. Schalko erfindet und produziert Sendungen und Filme wie den „Tatort“, er schreibt Bühnenstücke und Romane und brachte jüngst einen Fotoband heraus.
Schon in seiner Sky-Serie „Ich und die anderen“ hatte er mit der grassierenden Selbstbezogenheit gespielt: Hier wussten dank einer App alle Menschen, was der Held gerade denkt und fühlt. In der ARD-Serie „Warum ich?“ reibt er sich nun an der Egozentrik und Empathielosigkeit. „Selten fragt einer mal: Warum wir? Oder gar „Warum nicht?“, schreibt er in seinem Regiestatement. Nach dem aufwendigen Dreh von „Kafka“ wollte Schalko sich in einem kleineren Rahmen ganz auf die Schauspielerinnen und Schauspieler konzentrieren. Die sechs Folgen sind Einzelstücke, eine knappe halbe Stunde lang und spielen meist an einem Ort. Man muss die Folgen nicht mal in einer bestimmten Reihenfolge sehen. Nur drei Figuren, gespielt von David Bennent, Bjarne Mädel und Robert Palfrader, tauchen in zwei Folgen auf.
Statt einer durchgehenden Handlung gibt es Motive, die immer wieder aufscheinen. Stets werden feste Selbstbilder erschüttert und die Rollen ganz neu verteilt – und oft trägt der Alkohol einiges dazu bei. So in der Folge „Cowboy“: Hier gibt ein verschuldeter Countrystar mit Bierwampe (Charly Hübner) Wohnzimmerkonzerte bei Fans – Vorbild war offenbar Gunter Gabriel. Bei einem Gastspiel in einem Reihenhaus will sich Jeff Kanter den trostlosen Abend mit der Gastgeberin Monika (Andrea Sawatzki) schöntrinken – doch die Dame hat eigene Pläne mit ihm. Einsam ist auch der Gastgeber einer Geburtstagsrunde in einer Bar (Thomas Schubert) in der Folge „Freunde“: Seine Gäste langweilen sich beim Aufschneider. Doch dann wird Dominik von einem Typ mit Pistole (Merlin Sandmeyer) entführt – und lernt einen Hauch Freundschaft kennen. Ein Nobelrestaurant, in dem jeder Egozentriker seinen Stil mit einem besonderen Drink betont, ist Schauplatz der turbulenten Folge „Casa Carmen“. Als leutselige Trinkerin bestreitet Katharina Thalbach einen Gastauftritt in der Folge „Lebenskerze“. Ihr Schwager (Robert Palfrader) ist jener Mann, der seinen Ego-Kindern erklärt, dass er aus dem Leben scheiden will.
Der Spaß prominenter Schauspieler überträgt sichNicht nur Katharina Thalbach darf eine überdrehte, schräge Type spielen: Auch der Auftritt von Andrea Sawatzki als liebestoller Countryfan ist eher Boulevardtheater. Warum nicht? Die kurzen Folgen sind ohnehin Mini-Theaterstücke, die überraschende Auflösungen parat halten und herrlich abgründig sind. Gern arbeitet Schalko mit Kabarettisten: So singt hier Hannes Ringlstetter als Gastgeber einer Talkshow mit Charly Hübner dessen Hit „Bier für Helden“ und macht sich zugleich über ihn lustig: „Heute muss er trinken, dass er sich eine große Menschenmenge überhaupt vorstellen kann!“
Dazu kann David Schalko auf prominente Schauspieler bauen: Ob Charly Hübner als uneitler „Cowboy On The Road“, ob Detlev Buck als Waldhüttenpatriarch in einer Mischung aus „Mad Scientist“ und Prepper, ob Nora Waldstätten als zynische Personalabwicklerin oder Bjarne Mädel als rätselhafter Bahnfahrer – sie alle haben Spaß an kurzen Auftritten und dieser Spaß überträgt sich.
Warum ich? – sechs Folgen, ab 20.Juni in der ARD-Mediathek
Berliner-zeitung